Der Tag an dem meine Mutter sich das Leben nahm.

Uncategorized Jan 15, 2022

Meine Mutter hat sich im letzten Sommer das Leben genommen. Heute spüre ich Erleichterung. Es braucht Zeit, um sich so ein Gefühl einzugestehen, es zuzulassen in seiner vermeintlichen Radikalität. Ich habe mir diese Zeit genommen, habe Leben ausgeleuchtet – mein eigenes, das meiner Mutter und nicht zuletzt jenes unserer Familie – und mir damit das Fundament geschaffen, auf dem meine Erleichterung wachsen konnte.

Die Nachricht vom Selbstmord meiner Mutter erreichte uns, meinen Mann, unsere Tochter und mich, im Auto, auf der Rückfahrt von Italien nach München. Kurz zuvor hatte ich erfahren, dass ich wieder schwanger war. Das hatte ich feiern wollen. Mit einem Familienausflug an den Gardasee. Wir gingen baden und essen und flanieren. Wir drei hatten es gut. Dolce vita, trotz allem … Ja, das Trotzdem war mitgefahren, und es wich nicht von meiner Seite. Vor unserer Abfahrt hatte mein Bruder angerufen. Es gehe wieder los mit Mama, hatte er gesagt. Und etwas von Showdown gemurmelt. Ich wusste, was er meinte. Nicht schon wieder, dachte ich – und packte meinen Koffer. Natürlich war in dem Augenblick alles wieder hochgekommen in mir. Alles – damit meine ich die dunklen Schatten, die seit Jahrzehnten über unserer Familie lagen.

Meine Mutter hatte bereits früh Panikattacken. Eine Tochter streng katholischer Eltern, der man mit Erzählungen von Fegefeuer und Hölle viel Furcht eingepflanzt hatte. Mit 16 begann sie zu trinken. Der Alkohol vertrieb die Angst. Sie ertrank sich angstfreie Stunden. Mehr und mehr. Als sie meinen Vater kennenlernte, war sie Mitte 20. Ihr Studium schloss sie noch ab, in ihrem Beruf als Grundschullehrerin arbeitete sie jedoch nur kurz. Die alten Ängste kamen zurück. Mein Vater war Arzt, wollte helfen. Überzeugte sie von Antidepressiva. Dann kamen wir Kinder. Erst mein Bruder, zwei Jahre später ich.  Sie wollte uns eine gute Mutter sein. Liebevoll, fürsorglich, interessiert. Eine Zeitlang lebten wir in Thailand, wo mein Vater als Tropenmediziner arbeitete. Wahrscheinlich griff sie da bereits wieder zur Flasche. Später versuchte sie es noch mal in ihrem Job, dann in einem anderen. Am Ende stand die Kündigung – wegen Alkohol. Mein Vater war nun Alleinverdiener und viel unterwegs. Vielleicht hatte sein Verhalten auch etwas von Flucht, in die ihn Enttäuschung und Hilflosigkeit trieben. Das Verhältnis meiner Eltern wurde ein schwieriges. Natürlich kümmerte er sich um sie und uns, wenn er da war, aber er war eben nur selten da.

Ich suchte bereits früh eigene Wege, um des häuslichen Situation zu entkommen. Als Fünftklässlerin meldete ich mich selbstständig auf einer Ballett-Akademie an. Tanzte vor und wurde angenommen. Das war meine Rettung. Fortan hatte ich eine Ersatzfamilie. Eine, die mir gab, was ich vermisst hatte: Strenge, Ordnung, Kontrolle. Dort gab es Leute, die auf mich aufpassten. Ich trainierte bis zu sechsmal in der Woche. Drei Jahre später schmiss ich hin. Ich wollte frei sein, ein normaler Teenager eben. Aber nicht die große Freiheit wartete auf mich, sondern das alte Elend. Geht’s Mama gut? Geht’s ihr schlecht? Wie viel hat sie getrunken? Alles kreiste nur um sie. Mein Bruder und ich taten unser Möglichstes, doch die Möglichkeiten von Kindern sind begrenzt. Wir spürten Wut, wenn sie volltrunken draußen herumlief, hatten Mitleid, wenn sie danach der Katzenjammer überkam.

Mit 20 zog ich zuhause aus, um zu studieren. Der Beginn meiner Loslösung. Viele Jahre habe ich dafür gebraucht. Jahre, in denen meine Mutter immer tiefer in den Abgrund rutschte. Unzählige Klinikaufenthalte, unzählige Entzüge, unzählige Therapien. Aufkeimende Hoffnungen und zerplatzte Illusionen. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und brach den Kontakt zu meiner Familie ab. Ich hatte inzwischen meinen Mann kennengelernt. Er mochte meine Mutter, aber unsere Beziehung litt unter dem ständigen mütterlichen Störfeuer. Für kurze Zeit trennten wir uns sogar. Das war der Moment, an dem ich die Reißleine zog. Er und ich beschlossen, wegzugehen. Weg von dem, was unerträglich geworden war. Wir verbrachten damals einige Monate auf Bali. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich frei und glücklich. Ich meldete mich weder bei meiner Mutter, noch bei meinem Vater oder meinem Bruder. Das war gut und richtig, doch es kam der Moment, an dem ich schmerzlich spürte, dass ich nicht völlig ohne meine Familie sein konnte. Also tastete ich mich nach meiner Rückkehr langsam wieder an sie heran, mit therapeutischer Hilfe. Ein Austarieren war das, Distanz und Nähe behutsam abwägend. Ins alte Fahrwasser wollte ich nie wieder zurück, aber ich wollte einen Modus finden, in dem ich aushalten konnte, was da schwelte. Wohl dosierter Kontakt mit der Möglichkeit des jederzeitigen Rückzugs. Auch in meinem Vater und Bruder veränderte sich etwas. Sie schienen zu begreifen, was mich antrieb. Bewegt sich einer im Gefüge, gerät alles andere ebenfalls in Bewegung.

Meine Mutter reagierte mit Selbstmordversuchen. Zunächst halbherzigen. Später ernsthaften. Beim letzten Mal rief ich die Polizei, den Notarzt. Sie wurde gerettet, doch mein Vater saß in sich zusammengesunken in der Küche und stammelte nur noch: „Na, ob das die richtige Entscheidung war.“ Da wusste ich: Er hatte einfach keine Kraft mehr.

Ein letztes Mal drangen mein Mann und ich auf ein Gespräch mit der Oberärztin der Psychiatrie. Um meine Mutter von zuhause wegzubringen. Weg von meinem Vater, an einen Ort, wo man sich um sie kümmern würde. Doch wieder einmal flehte sie ihn an, sie zurückzunehmen. Und wieder einmal drehte sich das unheilvolle Karussell weiter.

Noch einige Klinikeinweisungen folgten – bis zu jenem Tag, an dem mein Vater uns auf der Rückreise von Italien anrief, um uns mitzuteilen, dass er sie am Morgen tot neben ihrem Bett gefunden habe. Obwohl ich geahnt hatte, dass es passieren würde, durchfuhr mich ein nie gekannter Schock. Ich zitterte, schrie, weinte. Wir brauchten lange an jenem Tag, gerieten von einem Stau in den nächsten. Ich fühlte mich wie eingesperrt in diesem Auto, auf dieser Autobahn zwischen all den anderen Autos, die sich kaum bewegten. Ein Käfig, aus dem meine Gefühle nicht ausbrechen konnten: Unendliche Traurigkeit darüber, dass sie so einsam gestorben war. Aber auch Wut. Auf meinen Bruder, der sich tags zuvor noch mit ihr gestritten hatte. Auf meinen Vater, der im Nebenzimmer geschlafen hatte, als es geschah.

Doch all die Gefühle, sie verflüchtigten sich im Laufe der nächsten Wochen, in denen so viel getan werden musste. Beerdigung, Nachlass – und Umzug. Ja, mein Mann, unsere Tochter und ich zogen von der Stadt aufs Land. Ein Entschluss, der bereits Monate zuvor gefasst worden war, um Abstand zwischen uns und meine Mutter zu legen, und der nun, nach ihrem Tod, umgesetzt wurde. Ich kam kaum zum Nachdenken. Das setzte erst ein, nachdem sich die Dinge gesetzt hatten. Ich wieder Zeit für mich hatte und das Tröstende darin spürte, dass in mir, die gerade ihre Mutter verloren hatte, neues Leben zu wachsen begann. Meine Traurigkeit trat leise den Rückzug an. Und als mich eine Freundin irgendwann im Herbst fragte, wie es mir gehe, sagte ich diesen Satz: „Ich bin erleichtert.“ Die Angst, ich würde fortan die schwere Last dieses Selbstmords mit in die Zukunft nehmen und nie mehr loswerden, sie ist verschwunden. „Sie haben das Schlimmste hinter sich“, erklärte meine Therapeutin, und das Gefühl meiner Erleichterung gibt ihr Recht.

Eines freut mich besonders: Das Verhältnis zu meinem Vater hat sich verändert. Ich habe begriffen, dass auf ihn, trotz seiner oft unemotional und harsch wirkenden Art, stets Verlass gewesen ist. Er hält ein, was er zusagt. So ganz anders als meine Mutter. Wenn sie trocken war, war sie das, was sie immer hatte sein wollen: die gute Seele unserer Familie. Aber dann kamen ihre Abstürze, und sie brach ihre Versprechen. Wo mein Vater etwas Verlässliches hat, hatte sie etwas Verlassendes. Jetzt, da sie fort und das Chaos, in das sie uns immer wieder gerissen hat, mit ihr verschwunden ist, treffen wir uns wieder häufiger in der Familie. Wir haben einen sehr schönen Kurzurlaub in die Berge unternommen – Mann, Tochter, Vater, Bruder und ich. Das hat uns einander näher gebracht. Unser neues Haus auf dem Land ist zu einem neuen Begegnungsort geworden. Wir genießen es wohl alle, nun über unser Leben verfügen zu können – jeder auf seine Art und doch miteinander.

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Diese autobiografische Erzählung erschien im Januar 2022 im Frauenmagazin DONNA. Geschrieben hat den Text Annette Hohberg, freie Journalistin, nach einem langen Gespräch mit mir über das erlebte.

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